Brainstorming


„Ich verzichtete darauf, weiter nachzufragen, weil Mary Petrie ziemlich oft die Geduld verlor, wenn ich zuviele Fragen stellte.
Eine ähnliche Geschichte war ein paar Monate zuvor passiert, als sie nach Hause gekommen war und mir von einer ungewöhnlichen Wolkenformation erzählt hatte, die ihr aufgefallen war. Anscheinend hatte sie wie ein Vogel ausgesehen, aber als ich sie fragte, ob sie einen fliegenden oder bloß einen hockenden Vogel meinte, war sie explodiert…“
(M. Mills: Zum König)

Meine Eltern erinnern mich in ihrer Art zu denken immer an die Montagsmaler. Sie zeichnen drei Striche und ich rufe: Ein Haus, ihr meint ein Haus – und meine Eltern rufen zurück: Unsinn. Guck doch richtig hin.
Seitdem sehe ich immer genau hin, wenn meine Eltern etwas tun oder sagen. Meine Mutter wollte mich demnächst in Hamburg besuchen, wahrscheinlich einfach, um zu sehen, was ich so den ganzen Tag mache, weniger, weil sie Hamburg liebt. Denn Hamburg liebt immer nur sich selbst. Meine Eltern dagegen zogen nach Frankfurt, und Frankfurt liebt sich nicht, mag aber noch weniger andere deutsche Städte. Sie hatte dabei einen Zug rausgesucht, den ich nicht finden konnte. Krampfhaft hielt ich den Fahrplan in den Händen und überlegte, was meine Mutter wohl gesehen hatte, und was ich nicht sehe – im Fahrplan. Ich schloss die Augen und versuchte zu denken, wie meine Mutter denkt, obwohl ich natürlich wusste, dass der Versuch zu denken, wie die Mutter denkt bedenklich, Zug denke ich, Hamburg denke ich, und wie bedenklich es ist, wie meine Mutter denkt.
Gestern rief sie an und erzählte von ihrem neuen Cafe, in das sie jetzt immer geht. Ich fragte, nett? Sie sagte, ja nett, bis auf die Musik. Das wäre immer so echter Esotherikscheiß. Sie sagte Esotherikscheiss, wie der Frankfurter sagt und der Hamburger nicht reden würde. Der Hamburger würde sagen: schlechte Musik, aber der Frankfurter spricht die Dinge beim Namen an, was zeigt, dass sich meine Mutter in Frankfurt schon richtig aklimatisiert hatte.
Sie sagte, aber manchmal hätten die auch gute Musik, Du weißt, die Negerin mit den Blumen.
Ich weiß nicht und rufe: Ein Haus, Du meinst ein Haus und meine Mutter sagte, jetzt sag doch, wie heißt die denn. Ein Stichwort bräuchte ich schon noch, und meine Mutter sagte sparsam, wie sie eigentlich nicht ist: weiß.
Ich wiederholte: weiß. Sie sagte, ja, weiße Blumen.
Ich sagte: Billie Holiday, stolz auf die wenigen Versuche, die ich gebraucht hatte, und meine Mutter sagte: genau – enttäuscht über meine Begriffsstutzigkeit. Ich sagte, sie könne jetzt schon ein bisschen beeindruckt sein, sie sagte, ich stünde schon ein bisschen auf der Leitung. Dabei wusste ich genau, dass andere Menschen meinen Eltern oft nicht folgen können, dass sie in der Regel nur von meinem Bruder und mir verstanden werden, und man jetzt natürlich meine könnte, meine Eltern seien sich in ihrer Rätselhaftigkeit ähnlich.
Sind sie aber nicht.
Die Assoziationsketten meiner Mutter sind neutral und auf kein Ziel gerichtet. Während die Rätselserie meines Vaters meistens in der Demütigung seines Gegenübers endet.
Wir trafen uns mit einer Freundin in einem Cafe und Geli trug einen roten Schal. Mein Vater sagte: Du siehst aus wie…, dann sah er mich an: Wie heisst der Arsch nochmal mit dem roten Schal?
Mein Vater sagte Arsch. Er wohnt jetzt auch in Frankfurt.
Ich sagte: Johannes Heesters. Er sagte unbeeindruckt: Stimmt.
Und Geli sagte, sie wisse jetzt nicht, wen von uns beiden sie mehr hasse und zog den Schal aus.
Vielleicht liegt es an der Denkweise meiner Eltern, die zwar meine Assoziationfähigkeit geschärft haben, nicht aber meinen Blick für ein sozial genormtes Gedächtnis.
Oft entfallen mir Namen, von Leuten, die ich eigentlich kennen sollte und kürzlich wurde mir von einer Jugendfreundin berichtet, die Tante geworden sei, die Schwester habe ein Kind bekommen, und obwohl ich wusste, dass man Geschwister brauchte, um Tante zu werden, wusste ich nicht mehr, dass die Jugendfreundin überhaupt eine Schwester hatte. Die Freundin sagte, klar wüsste ich das, die Schwester würde sich an mich doch auch noch erinnern, was die Sache ja immer schlimmer macht. Ich erinnerte mich an das Auto der Freundin, daran, dass der Innenspiegel immer abbrach wenn man ihn einstellte. Das Auto war gelb – aber an die Schwester hatte ich überhaupt keine Erinnerung. Die Freundin sagte: blonde Haare, hätte sie weiße Blumen gesagt, aber mit blonden Haaren kann man mir nicht kommen.
Ich sagte: Ein Haus, du meinst ein Haus.
Sie sagte: Lange blonde Haare.
Ich betrachtete den Fahrplan. Es gab den ICE nicht, es gab die Zeit nicht, und es gab das Gleis nicht, auf dem meine Mutter einfahren wollte. Ich stellte mir meine Mutter vor, wie sie mit ihrem Gepäckwagen gegen die Säule zwischen den Geleisen donnerte, wie Harry Potter.
Ich schlug den Fahrplan zu, und der Frankfurter in mir sagte:
Ach, Scheiss drauf. Wird schon klappen.