Alte Meister
„Damit hängt es wohl auch zusammen, dass der Maler und der Dichter
immer der Vergangenheit oder der Zukunft anzugehören scheinen; sie werden
immer erwartet oder als ausgestorben beklagt.“
Robert Musil: Der Malsteller
Ich ging mit meinem Vater über die Brücke, die nicht der eiserne
Steg war. Mein Vater fragte, wie heißt denn gleich noch mal die Brücke,
und um mir vorzukommen, es sei nicht der eiserne Steg. Mir war es egal, wie
nun die Brücke hieß, aber ich wusste, dass meinen Vater diese Frage
nicht mehr loslassen würde. Dazu ist er nicht der Typ, und selbst wenn
er, wie so häufig, egal, egal, murmelte, wusste ich genau, dass er später
im Internet nachsehen würde. Ich wusste es nicht. Ich hätte im gerne
die Internetsuche erspart, aber wahrscheinlich hätte er mir auch gar nicht
geglaubt. Mein Vater ist nicht der Typ, der anderen glaubt.
Wir wollten uns im Städel eine Ausstellung über alte Holländer
ansehen. Meine Schwägerin meinte, den Vermeer sollten wir zuletzt betrachten,
denn wenn man zuerst Vermeer betrachtete habe man auf die anderen keine Lust
mehr.
Meine Mutter hörte heraus, wir sollten uns nur den Vermeer betrachten,
der Rest lohnt nicht. Aber als mein Vater ihr den festen Verband andrehen wollte,
für ihren lädierten, zweimal operierten Arm, ahnte sie, dass mein
Vater alles sehen wollte und zog ihre Schuhe wieder aus.
Mittlerweile waren wir schon in der Holbeinstrasse. Mein Vater fragte, wer Holbein
war. Ich wusste es nicht. Wenn man mit meinem Vater wegging hatte man immer
das Gefühl, selbst der Hauptschulabschluss sei ein Geschenk.
Mein Vater murmelte: „Holbein, Holbein – ach egal.“
An der Kasse saß eine Frau mit slawischem Akzent. Den slawischen Akzent
erkannte ich allerdings erst, als mein Vater plötzlich unvermittelt sagte,
er wolle sie jetzt nicht testen, aber ob sie wüsste, wer Holbein war, und
sie fachmännisch antwortete, sie sei neu hier.
Das sage ich auch immer, wenn mich jemand beim Musical Dinge fragt, die ich
nicht weiß: Neu – allerdings hat noch nie jemand die Frage eingeleitet
mit den Worten, er wolle mich jetzt nicht testen, das was man sofort fühlt,
den Test, der keiner sein will, getarnt durch die Aussage, dass das jetzt kein
Test sei. Bei dieser Einleitung vermutet man ja geradezu den Michelinführer,
der Sternchen verteilt.
Gewissenhaft betrachteten wir all die namenlosen saufenden Bauern, von all den
namenlosen Niederländern. Ich wunderte mich über die alten reichen
Holländer, die sich kotzende Bauern über den Esstisch hängten.
Die armen reichen Kinder, die ihren Teller leer essen mussten. Der Vater: „Das
soll jetzt kein Test sein.“
Ich hätte nicht gedacht, wie klein die Spitzenklöpplerin von Vermeer
in Wirklichkeit ist. Der Rahmen ist deutlich größer, wahrscheinlich
einfach um den Touristen zu zeigen, wie bedeutend die Spitzenklöpplerin
im Gegensatz zu allen anderen Bildern, was auch ganz gut funktioniert. Vor mir
stehen fünf Rentner um das Bild gruppiert. Ich stehe schräg vor ihnen,
weil ich natürlich wissen will, wie das Bild gemalt ist. Daran erkennt
man in den Museen die Maler. Sie hängen fast mit der Nase an der Leinwand
und man wartet förmlich darauf, dass der Alarm losgeht.
Ich erzähle meinem Vater, dass ich über Vermeer einmal ein Referat
halten musste. Sofort denke ich, wie dumm von mir, mein Vater wird mich festnageln,
und ich kann nicht sagen: neu – ich bin neu hier.
Mein Vater fragt natürlich sofort, ob Vermeer von seiner Kunst habe leben
können. Seit er sein Haus verkaufen musste, interessieren ihn die finanziellen
Angelegenheiten anderer Leute, das was ihn früher überhaupt nicht
interessiert hatte und weswegen er letztendlich sein Haus auch verkaufen musste,
aus reinem Desinteresse an Geld, dass Geld da sei und plötzlich weg war,
entwickelte sich beinahe eine Manie in Geldangelegenheiten, die Suche nach Leidensgenossen,
die er überall fand. Als wir uns einmal in Amerika das Haus von Frank Loyd
Whright betrachteten, erzählte uns die Führerin, Whright sei das Haus
irgendwann zu kostspielig geworden, und er habe es letzten Endes verkauft. Ich
hörte, wie mein Vater meiner Mutter zuflüsterte: „Guck, die
mussten auch ihr Haus verkaufen.“ Dies blieb die einzige Information,
die meine Mutter bekam. Sie konnte kein englisch, aber als wir mit der Besichtigung
durch waren, wusste sie das der Whright auch sein Haus verkaufen musste –
die arme Sau.
Natürlich hatte ich keine Ahnung, ob Vermeer von seinen Bildern leben konnte,
ich wusste nicht wer Holbein war und kannte nicht den Namen der verdammten Brücke.
Ich fühlte mich dumm und elend. Auf keinen Fall wollte ich zugeben, dass
ich einfach alles vergessen sogar, was ich studiert hatte, dass ich nichts mehr
wusste, bis auf die Tatsache, dass Vermeer wenig gemalt hatte. Krampfhaft überlegte
ich, wie ich diese popelige Information aufblasen und meinem Vater als fundiertes
Wissen entgegenschleudern in konnte.
Ich sagte deshalb, nein konnte er nicht, dazu hat er zu wenig gemalt. Das war
natürlich eine gewagte Schlussfolgerung. Es gibt genügend Maler und
Schriftsteller, die von einem Minimum an Produkten leben konnten. Einmal „it
never rains in southern california“ geschrieben, und man hatte ausgesorgt.
Aber zu meinem Vater sagte ich: „Vermeer – eine ganz arme Sau. Dabei
war der so talentiert.“ Die Rentner betrachteten mich missbilligend.
Erst versperrte ich ihnen die Sicht, und jetzt bezeichnete ich den alten Meister
auch noch als eine arme Sau. Aber ich ruderte um mein Leben. Ich paddelte im
Kreis um die Spitzenklöpplerin. „Und guck wie klein die sind. Wer
kauft schon so kleine Bilder.“
Jetzt hatte ich übertrieben. Natürlich kauften die Leute fast ausschließlich
kleine Bilder, aber mein Vater schien nichts zu bemerken und nickte nur.
Wir betrachteten den Geographen. Mein Vater sagte: „Aber vielleicht hat
er ja auch nur zu kurz gelebt um viele Bilder zu malen.“ Das ist das zweite,
was meinen Vater seit neustem interessiert: die Lebensdauer anderer Leute, weil
ihm mittlerweile die Freunde wegsterben.
Ich schiebe meinen Vater in den Museumsshop. Mein Vater will mir den Katalog
kaufen und fragt die Verkäuferin, ob das der Katalog sei. Eigentlich spricht
mein Vater nicht so gerne fremde Menschen an. Ich weiß, dass es ihn Überwindung
kostet, diese Frau nach dem Katalog zu fragen. Er wird auch prompt für
seinen Übermut bestraft, denn die Verkäuferin fragt barsch, ob er
hier noch einen anderen Katalog sehe. Diese Form der Fragestellung nennt man,
glaube ich rhetorisch. Mein Vater sieht sich trotzdem um und sagt, nein. Die
Verkäuferin sagt, dann sei das wohl der einzige Katalog zur Ausstellung.
Jetzt hat die Verkäuferin übertrieben. Mein Vater der sich seit Stunden
damit beschäftigte, wie die Brücke, die nicht der eiserne Steg ist,
heißt, wer Holbein war und ob Vermeer von seiner Kunst habe leben können,
soll jetzt auch noch wissen, welches der Ausstellungskatalog ist. Ein Verkäufer
ist er nun wirklich nicht. Er drückt mir dreißig Euro in die Hand
und sagt, ich könne den Katalog kaufen, wenn ich wolle. Er aber wolle da
nicht mehr hin, er habe Angst vor dieser Frau. Ich gehe zur Kasse, kaufe aber
ein Buch über Vermeer. Es ist dünn, was mich nicht wundert, so wenig,
wie der gemalt hat.
Wieder in der Holbeinstrasse fragt mich mein Vater, ob die Frau zu mir genauso
komisch gewesen sei. Ich sage, ja, warum solle sie zu mir denn anders sein als
zu ihm. Mein Vater dagegen hat sich wieder so seine Gedanken gemacht, na ja,
er habe gedacht, vielleicht sei sie ja lesbisch. Ich frage ihn, wie er dass
schon wieder meine, Lesben seien scheißunfreundlich im allgemeinen oder
nur speziell zu Männern, oder ob er nun schlussfolgere, wenn sie zu mir
nett seien, dann sei das Ausdruck der Gleichgesinnung. Gut, sagte ich, sie war
zu mir genauso unfreundlich – und was sagt Dir das jetzt? Aber mein Vater
grinst nur verlegen und sagt, er glaube Holbein sei ein Belgier.