Der Kampf der Mähdrescher

„Als ich in den unteren Barraum kam, war mir augenblicklich klar, dass irgend etwas nicht stimmte…“Wo sind denn die anderen alle?“ fragte ich.
„Sie spielen heute im Journeyman“, antwortete er. „Da, wo Sie jetzt auch sein sollten.“
„Aber ich dachte die Spiele wären donnerstags.“
„Das gilt für die Heimspiele“, schnauzte er mich an. „Die Auswärtsspiele sind immer dienstags.“
„Ach“, sagte ich. „Das wusste ich nicht.“…“
(Magnus Mills: „Indien kann warten“, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002, S. 128)

Als ich in einem unüberlegten Moment Chris fragte, ob sie eigentlich je überlegt habe aus Hamburg wegzuziehen, sah ich in ein überraschtes Gesicht, dessen hanseatischer Mund die Frage formte: Um Gottes Willen, wohin denn?
Mittlerweile bin ich lange genug hier um zu wissen, was den Hamburger in Hamburg hält, man könnte vereinfacht denken: Hamburg. Nur, was unterscheidet diese Stadt von anderen großen Städten, warum ist es für den Hamburger so unbegreiflich, seine Stadt zu verlassen, und weshalb behauptet der Wetterdienst, die aufkommende Schlechtwetterfront zöge ausschließlich über die schönste Stadt Deutschlands, so als ob es nirgendwo anders auch regne, als könne selbst der Regen einer so unbeschreiblichen Stadt wie Hamburg nichts ausmachen, und selbst wenn es anderswo einmal nieseln sollte, die anderen Städte den Kampf gegen das Wetter verlieren, nasser und trister werden, während die Hanse in einem Glanz, den nur der Hamburger zu erkennen vermag erstrahlt.
Aus meiner Sicht, die schon immer eine Sicht aus der Provinz war, ich, die ich ja streng genommen auf dem Land groß wurde, auf einem Land, Land genug, um seine Haustiere in Kornfeldern zu verlieren und Stadt genug, um die Feldwege zu teeren und sich in einem fort in eine Stadt zu wünschen, aus meinen Provinzaugen sind Großstädte Großstädte. Ich mache noch feine Unterscheidungen zwischen Stuttgart und Berlin, und trotzdem stellte sich für mich nie die Frage, ob nun Frankfurt oder Hamburg meine Stadt der Zukunft werden sollte. Ich ging nach dem reinen Ausschlussprinzip vor, dass ich bestimmt nicht in Reinheim leben, geschweige denn sterben wollte, dem Nest im Irgendwo, wo die Läden wie die Nachnamen meiner Mitschüler klangen, wo die Läden den Vätern der Mitschüler gehörten und die Getränkehandel immer Getränke Reinhard heißen würden, es sei denn Herr Reinhard wäre mit dem Pech einer Tochter gesegnet, die den Namen ihres Nachbarn annähme, des Bäckers Freitag, und der Bäcker das Glück hatte sich in seinem Nest auszudehnen, denn dann gab es einen Bäcker und einen Getränkeladen mit seinem Namen. Man vermutete beinahe das Ziel, dass irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft, Reinheims Einzelhandel den einen großen Namen trug, der sich durchsetzte: Habermann, denn auch die Freitags bekamen nur Töchter.
Ich zog von Frankfurt nach Hamburg. Der Landmensch zieht in kleinen Schritten und misst die Entfernung in Hektar, die Zeit am Stand der Sonne und in unseren Höhlen malten wir mit bloßen Händen das zu erjagende Vieh. Ich brauche Vieh, rief der Metzger Bauer von der Anhöhe, und einen Sohn, der mir die kleine Habermann heiratet. Ich weiß noch nicht einmal mehr, warum ich von Frankfurt wegzog, ich mochte Frankfurt. Frankfurt sei eine schöne Stadt erklärte ich meinen Arbeitskollegen, die müde lächelten und meinten, warum ich dann dort nicht mehr wohne. Über soviel städtische Spitzfindigkeit konnte ich nur bäurisch einfältig lächeln, zumal ich immer verschwieg, dass ich vom Land kam, immer behauptete, Frankfurt sei`s gewesen, die Stadt meiner Geburt, was auch ganz gut funktionierte – der Hamburger hatte schließlich keine Verwandten im Ausland, er ging nie ins Ausland, und wenn er sagte Frankfurt sei eine hässliche Stadt, dann meinte er seine Vorstellung von einer Stadt, die er in der Zeitung gesehen hatte und von der der Zeitungsreporter mutmaßte, es könne Frankfurt sein. Die Stadt, als Wille und Vorstellung.
Chamäleongleich versuchte ich mich in den Städten an das dort geltende Brauchtum anzugleichen. Provinzmenschen sind Herdentiere, verlassen sie die heimische Wiese, versuchen sie sich an die Elbe zu stellen wie ortsansässige Schafe auch, versuchen ein wahres Stadtschaf zu sein und in der gleichen Art zu grasen, wie der Hanseat grast, und die Elbe zu ehren und lobpreisen, niemals eine Zigarette an einer Kerze entzünden, damit kein Seemann stirbt, und jegliche Anzeichen eines Dialekts über Bord zu werfen.
Das ist aber leckeres Gras, gell? Die Herde hält inne und betrachtet mich argwöhnisch. Ich sagte, das Gras schmecke vorzüglich, und die Herde grast weiter, als sei nichts gewesen.
Nach Jahren der Anpassung vollzieht sich ein merkwürdiges Phänomen. Die Stadt, in der man immer fremd war, in die man zog, wie eine Schildkröte, die wusste, das die eigenen Wurzeln wo ganz anders lagen und man wahrscheinlich irgendwann im Sog der Erinnerung zurück schwamm, was eine Zeitung damals so hübsch: die Sehnsucht der Gene nannte, nach Jahren der Gewöhnung, fängt man an, seine Stadt zu lieben, als habe man schon immer hier gewohnt, als sei man nie aus Hamburg weggekommen und wenn man gefragt würde, warum man seine Stadt nie verlassen habe, würde man sein Gegenüber mitleidig ansehen und die Frage: um Gottes Willen wohin denn? noch nicht einmal mehr formulieren.
Man fährt Richtung Elbtunnel und beim Anblick des Hafens und der Kräne schießen einem Tränen des Glücks in die Augen, so als habe man sie gebaut, als sei man Blohm und akzeptiere weltoffen, dass Frau Voss ihren Namen behält – man kommt ja aus einer Großstadt.
Diese schon leicht übertriebene Liebe zu seiner Wahlheimat geht so weit, dass man für vermeintliche Kritik aus dem Ausland schon gar nicht mehr empfänglich ist. Ein Stuttgarter würde es nicht wagen die alte Hanse anzuzweifeln, und auch der Kieler hält sich zurück. Ein wirkliches Problem stellt dagegen der Berliner dar, und damit meine ich auch nicht den Berliner an sich, sondern den zugezogenen Berliner, den Berliner, der nach Jahren der Gewöhnung grast wie die anderen Stadtschafe auch und dem beim Anblick des Palastes der Republik Tränen der Rührung in die Augen schießen, als sei er Erich und habe die kleine Honecker geheiratet.
Ich stand an der Bühne und kaute misstrauisch mein Büschel Elbgras. Die Band sagte: Hallo Hamburg. Wir kommen aus Berlin.
Grasende Stille.
Das erste Lied handelt von einem Wintertag, die nirgends so kalt sind wie in Berlin.
Die Schafe verstanden nur nirgends – so - wie und wurden unruhig. Nach Sekunden der Überlegung meldete sich ein Schaf aus der ersten Reihe:
Stimmt doch gar nicht.
Hier ist es viel kälter, sagte das zweite.
Am kältesten ist Hamburg. Dafür ist Norddeutschland doch bekannt, wiegelte das dritte Schaf die Herde auf.
Also echt. Kommen aus Berlin und meinen das Thermometer erfunden zu haben.
Die Situation war beinahe komisch, so als sei es etwas tolles kalte Winter zu haben, als wolle man sich so etwas von einem Berliner nicht sagen lassen. Ihr habt einen schwulen Bürgermeister? Ist ja lächerlich, unserer ist viel schwuler. Wir haben einen schwulen Bürgermeister und einen schwulen Paulipräsidenten.
Letzterer hätte wahrscheinlich auch nach Berlin gepasst, was aber auch nicht weiter wichtig war, letztendlich wohnte er in Hamburg und durchfror gemeinsam mit den Hanseaten die klirrend kalten Nächte, von denen die Hauptstadt nur träumen konnte, fror mit anderen Paulifans in der Nordkurve, Nord- und Südkurve wohlgemerkt und nicht West- und Ostkurve.
Wir sind Hamburger und ihr nicht, singt der HSV und betrübt musste ich bei den raren Derbies feststellen, dass dieser Satz auf mich sehr wohl zutraf, und wo sie wohl waren, meine wahren Wurzeln.
Bevor Chris abends ihr Büro verlässt, trifft sie immer auf eine türkische Putzfrau. Letztere öffnet vorsichtig die Tür und fragt: Heute staubsaug?
Ich finde, dass diese Formulierung etwas anrührendes hat. Stoiber würde sagen die Ausländer wollen sich doch gar nicht integrieren, für mich ist es eher ein Zeichen, den Kontakt zu seiner Heimat nicht ganz verloren zu haben. Schließlich muss man nicht unbedingt eine fremde Sprache beherrschen, um in einem fremden Land überleben zu können.
Chris sagt: Heute nicht staubsaug, morgen staubsaug.
Die Putzfrau zieht sich mit einem Lächeln zurück.
Chris sagt: Danke.
Die Putzfrau: Dafür nich.